Im Gespräch mit Martin Evenius

Martin Evenius ist sehr stolz auf seinen Vorfahren Sigismund*1), der vor genau 400 Jahren in Magdeburg lebte. Das war während des dreißigjährigen Krieges. Magedeburg wurde einige Jahre später (1631) komplett zerstört. Die Nachfahren waren Lehrer oder Pfarrer, und so folgte die eigene Berufswahl der Familientradition. Er wurde Diplompädagoge. Seine Masterarbeit hat er über die Pädagogik seines Vorfahren geschrieben.

Frage: Klaus Waldschmidt hat kürzlich einen schönen Artikel über Dich in den Biebertaler Nachrichten anlässlich deines 30jährigen Dienstjubiläums veröffentlicht. Darauf beziehe ich mich zum Teil.
Was macht ein Psychodrama- Assistent?

Antwort: Klaus Waldschmidt begleitet mich schon lange. – Die Psychodrama-Ausbildung nach Moreno habe ich 1991 abgeschlossen. Es ist eine gruppentherapeutische Methode der handelnden Darstellung des inneren Erlebens eines Menschen. Auf der Bühne bearbeiten Menschen persönliche oder berufliche Lebenssituationen, indem sie bestimmte Situationen szenisch darstellen, anstatt darüber zu sprechen. Bekannt ist die so genannte Familienaufstellung.

Frage: Wie nutzt du das im Alltag?
Antwort: Jetzt gar nicht mehr, aber als ich nach Biebertal kam, habe ich als Jugendpfleger damit gearbeitet und auch noch einige Jahre lang als Heimerzieher.

Frage: Bist du immer noch in der Arbeit mit den Jugendlichen aktiv, oder machst Du nur noch Verwaltung?
Antwort: Seit dem Umzug 2010 in die Karlstraße 22 habe ich keine Zeit mehr für die direkte Arbeit mit den jungen Menschen, doch ich kenne sie alle. Und gelegentlich mache ich noch Nachtbereitschaft.

1961 war in Gießen die Eröffnung der Hochschule für Erziehung im April ein wichtiges Ereignis. Juni: Die Justus-Liebig-Hochschule wird wieder zur Universität; und am Ende des Monats wird Martin geboren.

Martin entstammt einem christlichen evangelischen Elternhaus in Gießen. Er wurde 1961 geboren, legte 1982 seine Abiturprüfung ab und bekam 1988 die Bezeichnung Magister Artium verliehen. Dabei war diese Laufbahn nicht von Anfang an klar. Zur Wahl stand auch eine Ausbildung in einem Handwerk. Aber warum nicht beides? Es wurde zwar kein duales Studium, dennoch verdiente er sich mit seinem Hobby Nähen einige Jahre lang das Geld für Studium und Reisen. Erst in der Steinstraße, später in der Walltorstraße betrieb er einen kleinen Laden „Die zweite Haut“, in dem er vorzugsweise Lederhosen nähte. Eine alte Singer-Haushaltsnähmaschine musste dran glauben, bevor eine Industriemaschine für Leder angeschafft werden konnte. Während des Studiums betreute er schon Ferienfreizeiten. Ausgerechnet und passend lag das Jugendheim des Landkreises Gießen in der Pestalozzistraße in St. Peter Ording. 2005 wurde es an einen privaten Träger verkauft. Ab 1987, also noch während des Studiums arbeitete Martin Evenius für zweieinhalb Jahre im Adalbert-Focken-Haus in Gießen. Das ist eine vollstationäre Jugendhilfeeinrichtung für junge Menschen mit neurotischen und psychosomatischen Auffälligkeiten.
Als Martin Evenius zu Zeiten der Bürgermeister/in Leicht und Lopez als Jugendpfleger nach Biebertal kam, verfügte er bereits über beträchtliche Berufserfahrung.

Frage: Welche innovativen Ideen hattest Du als Jugendpflegeer? Werden sie immer noch genutzt, oder sind sie vergessen?
Antwort: Ich habe das Jugendzentrum gemeinsam mit den Jugendlichen aufgebaut, in Rodheim war es bekannt als „JUZ in de Kurv“. Wir hatten etliche internationale Begegnungen und organisierten gemeinsam mit Günter Leicht und Helga Lopez Veranstaltungen gegen rechts.

Frage: Meines Erachtens ruht die Jugendarbeit in Biebertal. Worauf führst du das zurück? Hast Du Ideen, wie man das wieder aktivieren kann?
Antwort: Wir müssen unterscheiden zwischen der teilweise guten Jugendarbeit, die viele Vereine machen und der Offenen Jugendarbeit für solche jungen Menschen, die sich in keinem Verein organsieren. An einem Angebot der Offenen Jugendarbeit fehlt es in Biebertal. Da aber die Kinder ab der 5. Klasse zur Gesamtschule Gleiberger Land oder in verschiedene Gießener Schulen wechseln, orientieren sie sich danach kaum noch nach Biebertal.
Nach meinen bisherigen Beobachtungen könnte sich mit dem neuen Jugendpfleger Emanuel Schönfeld wieder etwas entwickeln.

Frage: Warum hast du damals deine Tätigkeit als Jugendpfleger aufgegeben?
Antwort: Ich sah die Jugendlichen nur ein- bis zweimal pro Woche, das war mir zu wenig. Als mich dann Herr Röwekamp ansprach, der das erste Biebertaler betreute Wohnen in der Sonnenstraße gegründet hat, bin ich als Heimleiter dorthin gewechselt. 1991 hatten wir eine gemeinsame Jugendfreizeit mit erlebnispädagogischen Angeboten durchgeführt. Wilhelm Röwekamp war Jahrgang 1931. Kurz bevor er in Rente ging, hab ich das Übergangswohnheim Sonnenstraße 1995 von ihm übernommen.

Ich habe bei verschiedenen Besuchen den Eindruck gewonnen, dass in der Evenius Sonnenstraße GmbH ein gutes Betriebsklima herrscht. Herr Evenius nennt verschiedene Ursachen dafür, unter anderem eine Mitarbeiter/innen-Vertretung (seit 2017) angelehnt an das Betriebsverfassungsgesetz. Die Firmenphilosophie sagt „Der Mitarbeiter, die Mitarbeiterin soll sich wohlfühlen“. Im jeweiligen Arbeitsfeld sollen die Beschäftigten unterstützt und aufgefangen werden. Die Arbeit erfolgt weitgehend selbständig, aber in Teams. Alle sechs Wochen treffen sich die Teams. Diese Termine werden für das ganze Kalenderjahr im Voraus festgelegt.

Das war im April während der Feier zu Martin Evenius` 30jährigem Dienstjubiläum.

Rechts: Ausgezeichnet!

Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) zeichnet Betriebe aus, die sich in den Bereichen Gesundheitsförderung, Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, Vielfalt, Inklusion und interkulturelle Zusammenarbeit hervorheben. Diese Auszeichnungen, wie der BGW-Gesundheitspreis und die Auszeichnung „Integrationsfreundlicher Betrieb“, würdigen vorbildliches Vorgehen und innovative Ideen, die das Wohl der Beschäftigten fördern

Frage: Welche Pläne hast du für die Zukunft von Evenius?
Antwort: Die pädagogischen Angebote sollen noch stärker auf die einzelne Person abgestimmt werden. Von den 170 Betreuten arbeiten nur 40 in den Werkstätten der Karlstraße 22. Der Rest ist entweder in Ausbildung oder im Studium. Viele Klienten wollen weg aus den „Wohnheimen“ (heute = Besondere Wohnformen) in eine eigene Wohnung. Die Evenius Sonnenstraßen GmbH hat 31 Wohnungen in Biebertal, Heuchelheim und Gießen angemietet. Da die GmbH zuverlässig zahlt, ist dies kein großes Problem. Die jungen Menschen zahlen ihre Miete an die GmbH und kaufen die Lebensmittel selbständig ein. Das Geld wird seit 5 Jahren nach dem Bundesteilhabegesetz*2) an sie persönlich ausgezahlt. Das klappt alles recht gut. Ins „Betreute Wohnen“ kommt nur, wer das auch selber will. Es gibt sogar ein „Trainingswohnen“ *3). Ansonsten kommen Gelder vom Landeswohlfahrtsverband Hessen, von den örtlichen Jugendämtern, über Eingliederungs- und Jugendhilfe oder von außerhessichen Kostenträgern. Das verleitet mich zur nächsten Frage.

Frage: Woher kommen denn die jungen Menschen zu euch? Wie ist das Verhältnis von Männern und Frauen unter den Betreuten? Wie lange sind die Menschen unter eurer Obhut?
Antwort: Die Mehrheit kommt tatsächlich aus Stadt und Kreis Gießen. Andere Bundesländer, die KlientInnen schicken, sind vor allem Nordrheim-Westfalen, Bayern und Rheinland-Pfalz. Aber theoretisch können sie aus allen 16 Bundesländern kommen. Früher überwogen die jungen Männer, inzwischen ist das Verhältnis Männer zu Frauen ausgeglichen. Nach divers hatte ich nicht gefragt.
Etwa anderthalb Jahre verbringen sie in den „Besonderen Wohnformen“. Das Betreute Wohnen in eigenen Mietobjekten dauert durchschnittlich dreieinhalb Jahre.
Zu vielen Ehemaligen besteht nach Jahren immer noch ein guter Kontakt.

Martin Evenius: „Die jungen Menschen verbringen einen wichtigen Lebensabschnitt infolge einer Lebenskrise in unserer Einrichtung.
Miss/Erfolge hängen maßgeblich vom Engagement der Mitarbeiter/innen und KlientInnen selbst ab.
Die Betreuung erfolgt gleichberechtigt und auf Augenhöhe. Das Ziel ist Autonomie der jungen Menschen.

Frage: Und wie sehen deine privaten Pläne für die Zukunft aus?
Darauf bekomme ich keine Antwort im erwarteten Sinne. Sicher wird es öfter ins Haus an der Französischen Atlantikküste gehen. Und sicher wird auch mehr Zeit für die erste Enkeltochter sein, die vor knapp drei Wochen in Gießen geboren wurde. Herzlichen Glückwunsch dem frisch gebackenen Großvater!

Fotos Eveline Renell




*1) Sigismund Evenius war für die damalige Zeit erstaunlich viel auf Reisen. Er lebte unter anderem in den Städten Nauen/Brandenburg, Halle, Magdeburg, Regensburg und Reval (der heutigen Hauptstadt von Estland Tallinn). 1634 wurde er von Ernst dem Frommen als Kirchenschulrat nach Weimar berufen. Hier beteiligte er sich am vorbildlichen Ausbau des Schulwesens und gab die weit verbreitete Ernestinesche Bibel heraus. Sein Anliegen, die Folgen des Dreißigjährigen Krieges durch eine bessere Kindererziehung zu beseitigen, kam während seiner Weimarer Zeit besonders zum Tragen, die durch die Reformen Ernst des Frommen 1640 Ausdruck fanden. wikipedia.org/wiki/Sigismund_Evenius

*2)Aktion Mensch.de Inklusion/recht/Hintergrundwissen

*3) Sonnenstrasse.net/Wohnformen/Trainingswohnen/